Gewohnheit vs. Abhängigkeit

Der Kaffee am Morgen, die Zigarette nach dem Essen, das Scrollen vor dem Schlafen: Wo hört Gewohnheit auf und wo beginnt Sucht? Die Grenze ist oft weniger klar, als wir denken.

Das Spektrum

Gewohnheit und Abhängigkeit sind keine getrennten Zustände, sie liegen auf einem Kontinuum. Eine Gewohnheit kann sich über Monate oder Jahre zu einer Abhängigkeit entwickeln, oft ohne dass der Betroffene es bemerkt.

Der Unterschied liegt nicht im Verhalten selbst, sondern in der Beziehung zum Verhalten: Kann ich aufhören, wenn ich will? Oder bin ich vom Willen längst abgekoppelt?

Gewohnheit

  • Kann ohne grossen Aufwand unterbrochen werden
  • Kein Kontrollverlust
  • Keine körperlichen Entzugssymptome
  • Keine Toleranzentwicklung
  • Andere Lebensbereiche nicht beeinträchtigt

Abhängigkeit

  • Aufhören gelingt trotz Vorsatz nicht
  • Kontrollverlust über Menge/Häufigkeit
  • Entzugssymptome bei Unterbrechung
  • Steigende Dosis für gleichen Effekt
  • Vernachlässigung anderer Lebensbereiche

Die neurobiologische Sicht

Im Gehirn unterscheiden sich Gewohnheit und Abhängigkeit durch das Ausmass der Veränderungen im Belohnungssystem. Gewohnheiten werden in den Basalganglien gespeichert, dort, wo alle automatisierten Verhaltensweisen liegen, vom Autofahren bis zum Zähneputzen.

Bei Abhängigkeit ist mehr passiert: Das Belohnungssystem selbst wurde umgebaut. Die Dopaminrezeptoren sind herunterreguliert, der Sollwert für „normal" hat sich verschoben. Ohne die Substanz oder das Verhalten fühlt sich der Betroffene nicht neutral, sondern schlecht.

Der entscheidende Unterschied: Bei einer Gewohnheit konsumiere ich, weil es sich gut anfühlt. Bei einer Abhängigkeit konsumiere ich, weil ich mich sonst schlecht fühle. Das ist ein fundamentaler Wechsel der Motivation.

Die Warnsignale

Der Übergang von Gewohnheit zu Abhängigkeit geschieht schleichend. Diese Zeichen deuten darauf hin, dass die Grenze möglicherweise überschritten wurde:

Die Frage ehrlich stellen

Die wichtigste Frage ist nicht, ob das Verhalten „normal" oder gesellschaftlich akzeptiert ist. Die wichtigste Frage ist: Habe ich noch die freie Wahl?

Wenn die ehrliche Antwort „nein" lautet, oder „ich weiss es nicht", dann ist professionelle Unterstützung sinnvoll. Nicht, weil man versagt hätte, sondern weil man gegen Mechanismen kämpft, die stärker sind als der bewusste Wille.